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Thomas Cole, "Der Pokal des Riesen", entnommen aus
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Inhaltsangabe: Ein alter Museumsdiener, der ohne Freunde und Verwandte aus Polen nach Deutschland gekommen ist. Eine junge Frau, die von einer Wohngemeinschaft in die nächste zieht und ein Mann mittleren Alters, der als Kind miterleben mußte, wie seine Mutter mit einem gellenden Schrei aus dem Zug fiel. Diese drei Menschen treffen aufeinander, und das Abenteuer ihrer Verwicklungen beginnt.

Thomas Cole hatte der Maler geheißen und sein Bild DER POKAL DES RIESEN. Es war in der Mitte des 19. Jahrhunderts gemalt worden. Das Kind hatte sich das gemerkt, weil es wichtig gewesen war, daß, was es sah, etwas Gemachtes war, daß jemand es sich ausgedacht hatte. Wenn man den Namen des Malers wußte, konnte man sich dies Gemachte und Ausgedachte ins Bewußtsein rufen, ehe die Angst als Sturzwelle über einem zusammenschlug.

Im Lauf der Jahre war das Bild durch die Schichten seines Bewußtseins nach unten gesunken und dort im Unbewußten wie verloren gewesen. Aber ein ordentliches Haus verlor nichts, schon gar keinen unverbrauchten Schrecken, und der Mensch war ein sehr ordentliches Haus, nichts ging verloren. Hier im ungestalteten kleinsten Raum der fremden Wohnung baute er sich vor Max auf, sprengte Wände, wuchs über Haus, Straße und Stadt - der Pokal des Riesen.

Max wußte nichts über diesen Thomas Cole, dem ein großer Schrecken widerfahren sein mußte. Der Schrecken hatte sich so in seinem Bild erhalten, daß er hundertfünfzig Jahre später in einem anderen Erdteil bei dem Betrachter Max mit voller Wucht zuschlagen konnte.

Hatte Cole zuerst die Landschaft gemalt und dann, weil sie ihm zu friedlich erschienen war, die Ungeheuerlichkeit dieses Pokals daraufgesetzt, der größer war als die Berge, auf denen er stand, als die Stadt am Meeresufer, auf die sein Schatten fiel? Der Pokal war mit Wasser gefüllt, ein See, auf dem Schiffe segelten, man sah die winzigen aufgestellten Segel. Der Rand des Pokals war eine Art hügeliger Wald hinter einem teilweise bebauten Ufer, ein langgestrecktes Gebäude war zu erkennen. Aus unsichtbaren Löchern im bewaldeten Rand des Pokals spritzte Wasser auf die darunterliegende Welt.

Das Kind hatte sich damit beruhigt, daß die Löcher nur im Rand des Pokals waren. Wenn der Wasserspiegel bis unterhalb der Löcher gesunken war, konnte kein Wasser mehr austreten. Wann immer das Kind das Buch mit dem Bild zur Hand genommen hatte, hatte sich sofort die Angst gemeldet, ein neu es, tiefer liegendes Loch könnte hinzugekommen sein. Die Schiffe würden durch seinen breiten Hals auf den Grund des Pokals gesaugt werden und, so die schlimmste Vorstellung des Kindes, weiter, immer weiter durch die Erdoberfläche hindurch bis ins Innere der Erde sinken. Dort, wie das Kind wußte, war Feuer, das alles verbrennen würde, Schiffe und Schiffer und das Kind selbst.

Immer neue Gedanken waren auf das schreckbereite Kind eingestürmt. Wußten die Menschen in den Schiffen und am Pokalrand, daß es eine Welt außerhalb des Pokals gab? Schauten sie über den Pokalrand hinweg in den Abgrund der anderen Welt? Daß der solidere Teil der Welt, jener, auf dem der Pokal stand, für andere ein Abgrund war, auch darüber mußte man erschrecken. Wie über Adam und Eva im Paradies mußte über die Menschen im Pokal ein Gebot verhängt sein: Du sollst nicht über den Rand deiner Welt schauen! Wie Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben worden waren, nachdem sie vom verbotenen Apfel gegeßen hatten, so würden die neugierigen Menschen im Pokal aus ihrer Welt fallen, sobald sie ihr Gebot übertraten. Der Augenblick der Erkenntnis, erfuhr das Kind, war der Augenblick des Falls.

Eines Tages hatte das Kind auch auf dem bemoosten Fuß des Pokals Spuren einer Stadt zu sehen geglaubt, einen dritten Schrecken, worauf die Mutter verbot, das Buch vor dem Schlafengehen zu betrachten. Kurze Zeit später schloß sie es ganz weg, weil das Kind vom Fallen geträumt hatte, was später, viel später, zur Vorstellung des Mannes geworden war - zu fallen, zu fallen, zu fallen...


Auszug aus dem Roman Der Pokal des Riesen, erschienen im Gollenstein Verlag, Blieskastel 1996, S. 64 u. 65