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Inhaltsangabe: "Mein Mann war mir abhanden gekommen, ich hatte kein Geld", so beginnt die Geschichte einer Kölnerin mittleren Alters, die sich plötzlich gezwungen sieht, eine Stelle als Haushälterin anzunehmen. Ihre Arbeitgeberin ist eine kapriziöse ältere Dame, und Camilla erliegt dieser starken Persönlichkeit rasch. Die Ereignisse in deren Haushalt überstürzen sich geradezu, so dass die Erzählerin erkennen muss, dass bei der alten Dame mehr Leben herrscht als bei ihr selbst, dass sie sich jahrzehntelang vor dem Leben versteckt hat ...

S. 132 - 134:
An Ada oder das Verlangen gefällt mir, sagte ich zu Madame Elsa, daß ich das Buch betrete wie einen Raum, ein Haus oder ein unbekanntes Land. Ich liebe dicke Bücher, deren Handlung sich über einen langen Zeitraum erstreckt und die mich mit vielen unterschiedlichen Personen bekannt machen. Ich gehe in das Buch hinein und schließe die Buchdeckel hinter mir wie eine Tür. Dann ertaste ich das unbekannte Gelände, in dem ich mich für längere Zeit aufhalten will. Mit Neugier und Anteilnahme betrachte ich die Menschen, denen ich begegne, werde mit ihnen vertraut, ergreife Partei. Ich sehe sie in ihrer Zeit und aus meiner Zeit heraus, sehe sie ihre Fehler machen und in ihre Verhängnisse stolpern.

Erinnern Sie sich an die vielen Einschübe in anderen Sprachen, die in Ada vorkommen? Und was es bedeutet, wenn Van und Ada miteinander russisch reden? Das wird nicht übersetzt, und wir sehen die kyrillischen Buchstaben und wissen, das ist der intime Raum von Van und Ada, hier sind sie allein, vor uns abgeschlossen, wir folgen ihnen nicht.

Es sei denn, wir können Russisch, sagte Madame Elsa trocken.

Ja, aber auch dann behält es seine Bedeutung. Stellen Sie sich ein Buch in kyrillischer oder griechischer oder hebräischer Schrift vor, Madame Elsa, und mittendrin sieht ein lesender Russe, Grieche oder Israeli Sätze in einer anderen Schrift und einer Sprache, die nicht übersetzt wird. Da verschließt sich etwas vor ihm. Da ist ein kleiner Raum im Raum, den er nicht betritt. Selbst wenn er die andere Sprache oder Schrift kennt, markiert diese Stelle im Buch ein Tabu.

Ich hatte mich in Erregung geredet. Überhaupt ist die Literatur, sagte ich, ein Zeigen im Verbergen, ein Verbergen im Zeigen. Wer schreibt, will sich zeigen, sein Innerstes, Geheimstes, tiefste Ängste und Bestürzungen, Hoffnungen und Gläubigkeiten. Verborgen genug will er aber bleiben, um nicht geschmäht, verlacht oder verletzt zu werden.

Denken Sie, Madame Elsa, sagte ich, wie viele Wörter Proust geschrieben, wie viele Personen er erfunden hat, um der Frage nachzuspüren, was Identität ist, was übrig ist von einer Person, die ein Mensch zwanzig, dreißig, vierzig Jahre zuvor war, wenn doch die Zellen dieser Person längst abgestorben sind und sich erneuert haben. Diese Vase, nicht wahr - dabei hob ich die Vase von Madame Elsas Tischchen hoch -, ist und bleibt eine Vase aus Porzellan, ist der selbe Gegenstand wie zur Zeit, als Sie sie kauften. Keine abgestorbenen, keine erneuerten Zellen.

Und kein Gedächtnis, sagte Madame Elsa.

Und keine Erinnerung an sich selbst, sagte ich. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit,was für ein Titel, die rückwärtsgerichtete Suchbewegung des Menschen.

Ach was, Camilla, sehen Sie nicht, daß die Menschen heute das unbekannte Zukünftige suchen und sich um das Gewesene nicht scheren. Sie sind eine Romantikerin.

Sieht so aus, sagte ich.

S. 164 - 168:
Im Lager, in dem auch Boris Perlmutter war - ich weiß nicht, ob es Belzec war oder ein anderes, ich glaube, es war Belzec - , begann Mittelpunkt, gab es einen Maler, der eines Tages eine Liste machte, die eigentlich keine Liste war, sondern eher ein Kalender, eine Liste von Tagen. Der Maler verzeichnete die Tage des jeweils nächsten Monats, immer nur eines Monats, und zu jedem Tag malte er etwas, das, wie soll ich sagen, als Symbol von Hoffnung und Wiederkehr oder Beständigkeit angesehen werden konnte.

Zuerst malte er Dinge, die allein schon deshalb Hoffnung symbolisierten, weil sie bleibende Dinge waren und nicht, wie die meisten Menschen im Lager, eines Tages auf immer verschwanden. Er malte die Sonne, den Mond, die Sterne, die, selbst wenn sie für kurze Zeit unsichtbar waren, am nächsten Tag oder in der nächsten Nacht wieder da waren. Er malte Blüten und Pflanzen, weil die sich erneuerten, er malte Bäume, Büsche und Gräser. Dann begann er Kunstwerke zu malen, die bereits Jahrtausende überdauert hatten - Statuen, Sphinxe, Pyramiden, Tempel, Grabmäler.

Als ihm die Motive ausgingen, begann er, zuerst Verse, dann Liedzeilen aufzuschreiben. So stand neben den grauenerfüllten Tagen des Jahres 1943 zu lesen, was ein früherer Oberschullehrer, der im Lager Autos reparierte, dem Maler diktiert hatte:

Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes,
welcher soweit geirrt nach der heiligen Troja Zerstörung,
vieler Menschen Städte gesehn und Sitte gelehrt hat
und auf dem Meere soviel unnennbare Leiden erduldet,
seine Seele zu retten und seiner Freunde Zurückkunft.


Manche mochten die Verse nicht als ganzes verstanden haben, aber die Kombination von unnennbaren Leiden und seine Seele zu retten und seiner Freunde Zurückkunft konnten als Trost gegolten haben. Auch Reime aus Kinderliedern und Sprichwörter vieler Länder wurden aufgeschrieben. In die Häftlinge, bis auf jene, die bereits in völlige Apathie und dem absehbaren Tod verfallen waren, kam Leben. Ihre Erinnerung hatte Wert. Was sie als Kinder und Jugendliche gehört, was Eltern und Großeltern sie gelehrt hatten, behauptete sich gegen die Zeit. Jede gerettete Erinnerung, jeder überstandene Tag ein Sieg. Nicht daß die Verse Grauen und Angst löschen konnten, aber es gab etwas Unangreifbares im Menschen - das sich erinnernde Selbst.

Dann gingen dem Maler Verse und Sinnsprüche aus, er begann sich zu wiederholen, bis eines Tages ein Häftling den ersten Vers der Genesis sagte: Im Anfang schuf G'tt den Himmel und die Erde.

Darauf, verwunderte sich der Maler, hätten sie schon eher kommen können, denn nun, da die Genesis vielen bekannt war, flossen die Sätze, einer nach dem anderen, und begleiteten die Tage des Herbstes 1943 auf der Liste. In dem Maße, wie Häftlinge von Belzec nach Auschwitz verschickt wurden oder direkt am Ort starben, nahm die Erschaffung der Welt ihren Fortgang.

Ich glaube, sagte Sami Mittelpunkt und wischte sich über die Stirn, auf der Schweißtropfen standen, es gab niemanden, dem das nicht nach einer Weile aufging, diese Gegenbewegung von Vernichtung und Erschaffung.

Mittelpunkt goß neuen Saft ein.

Ich habe oft überlegt, sagte er, ob sie stimmt, diese Geschichte. Es gibt viele solcher Geschichten. Es gibt die Geschichte der Sängerin in Ravensbrück, die an Weihnachten a capella das Ave Maria sang und damit alle zum Weinen brachte, was ja auch eine Erlösung sein kann. Vielleicht ist die Geschichte vom Maler in Belzec eine Erfindung. Aber Perlmutter hat sie mir erzählt, als habe er sie erlebt. Er hat sogar den Namen des Malers genannt, und ich habe ihn nicht vergessen: Thaddeusz Szpilka.

Inzwischen war es sehr schwierig geworden, die Liste weiterzuführen, und zwar nicht nur, weil man fast am Ende der Genesis, am sechsten Schöpfungstag,angekommen war: Und der G'tt schuf den Menschen zu seinem Bilde, sondern weil kaum noch an Material heranzukommen war. Jeder, der konnte, hatte bisher etwas gestiftet, Fetzen und Lappen, Borsten zerbrochener Bürsten, die zu Pinseln zusammengebunden worden waren. Mit Blut und Suppenresten war geschrieben worden, mit allem, was ein wenig Farbe hergab, mit Kohle und Blattsud und Kaffee-Ersatz. Die Genesis-Verse waren in hebräisch geschrieben, weil man dazu, da die Vokale ausgespart werden konnten, weniger Material brauchte.

Aber Farben und Lappen und Pinsel waren dem Maler ausgegangen, bevor die Welt fertig erschaffen war, und so stand jener Satz Und G'tt schuf den Menschen zu seinem Bilde an diesem Ort, an dem man doch täglich das Gegenteil erlebte, wie Gott den Menschen auch zu Bestien geschaffen hatte, wie zum Hohn lange Zeit auf der Rückseite eines zerfetzten Hemdes. Ja, wie zum Hohn, das jedenfalls behauptete ein Zyniker, der eines Tages neu hinzugekommen war. Ein Zerrbild sei der Mensch, meinte der Mann, und über jenen Satz könne er nur hohnlachen.

Der Maler starb. Der Satz blieb stehen.

In Belzec waren nicht nur gläubige Juden. Es gab Ungläubige sowie Christen, die nicht gewußt hatten, daß sie auch Juden waren. Die Fluktuation im Lager hatte dazu geführt, daß nicht mehr viele Häftlinge vom Beginn der Liste wußten, die übrigens, ich weiß nicht, ob ich das schon erwähnt habe, Lebensliste genannt wurde, eine trotzige Bezeichnung, die sich gegen die wahren Verhältnisse richtete, finden Sie nicht?

Ich sah Florian nicken, nickte ebenfalls.

Diejenigen jedenfalls, die gab es noch, die die ganze Geschichte der Lebensliste kannten, erzählten sie weiter, und allein das konnte den einen oder anderen ein wenig aufrichten.

Eines Tages hatte ein frommer Mann, ein Katholik aus einer jüdischen Familie, auch solche gab es ja, wie schon gesagt, die von ihrer jüdischen Herkunft kaum oder gar nicht gewußt hatten, dieser fromme Mann also hatte ein Stück Papier besorgt und ein Stück Kohle. Er wollte dem Zyniker etwas entgegenhalten und schrieb jenen ersten Satz aus dem Johannes-Evangelium, der für ihn eine Art Entsprechung zur Genesis war:

Im Anfang war das Wort
Und das Wort war bei Gott
Und Gott war das Wort


Obwohl der Mann jüdischer Herkunft war, war ihm nicht bekannt oder nicht mehr bewußt, daß er das Wort Gott allenfalls unter Auslassung eines Buchstabens hätte schreiben dürfen: G'tt. Am Tag, nachdem der Mann seinen Satz, mit dem Johannes I, Vers I unter dem schönen Titel Das ewige Wort und das All beginnt, niedergeschrieben hatte, war auch er tot, und manche sahen darin eine Art Strafe, ließen den Satz aber stehen. Sie waren zu müde oder zu apathisch oder zu verzweifelt, um sich darum noch zu sorgen. Manche konnten, wie der Zyniker, an einen Gott ohnehin nicht glauben, der die Welt in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts zur Hölle gemacht hatte.

Aber ein frommer Mann kam in die Baracke, ein Orthodoxer, der diesen voll ausgeschriebenen Gottesnamen nicht ertragen konnte. Er wollte sich den Arm aufritzen, um sein Blut als Tinte zu benutzen, mit dem er das Wort oder wenigstens einen Buchstaben löschen konnte. Aber man versteckte jeden Glassplitter, jeden scharfen Gegenstand vor ihm, als man sein Vorhaben ahnte, denn der Mann war sehr aufgeregt und hatte bereits hohes Fieber, das in der Nacht stieg. Es war die Ruhr, die jetzt viele hatten.

Er delirierte: Wenn er den Namen des Ewigen oder nicht wenigstens einen Buchstaben lösche, so seien sie alle auf ewig verdammt. Er schlug um sich und schrie. Am nächsten Morgen, er war sehr geschwächt und sollte in die Krankenstation, und jeder wußte, was das bedeutete, suchte er weiter nach einem Gegenstand, um sich zu verletzen, fand aber nichts. Das einzige, womit er sein Vorhaben hätte ausführen können, waren seine diarrhöischen Exkremente, und er machte Anstalten, den Namen Gottes in seinem Fieberwahn damit zu löschen.

Mit Gewalt hielten ihn die Mithäftlinge davon ab, und er starb bald darauf. Aber die Diskussion darüber, ob dieser Mann mit der Tat, hätte er sie ausführen können, mit dieser letzten Lebensenergie, Gott geehrt oder geschmäht hätte, hielt an.

Das, sagte Sami Mittelpunkt, ist die Geschichte der Lebensliste, wie ich sie von Boris Perlmutter gehört habe.


Auszüge aus dem Roman Die Lebensliste, erschienen bei DTV premium, München, 2003