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Im Januar 1900 wurde in Krakau in Polen das achte Kind des Schneiders Salomon Szyldwach geboren - ein männliches Kind, das den Namens Josef erhielt und zwei Tage nach seiner Geburt beschnitten wurde. Obwohl Jossele zart war und kränkelte, lernte er gut. Er konnte schön und laut singen, konnte schnell kopfrechnen und konnte Geschichten, die er gehört hatte, behalten und ausgeschmückt wiedererzählen. Mit dreizehn durfte Jossele in der Synagoge laut und vor allen lesen. Die Psalmen des Königs David hatten es ihm angetan. Eine Stelle las er immer wieder:

Wünschet Jerusalem Heil!
In Sicherheit möge leben,
wer immer dich liebt!
Heil wohne in deiner Festung,
Sicherheit in deinen Palästen!
Meiner Brüder und Freunde wegen
will ich rufen: Heil in dir!
Wegen des Hauses des Herrn,
unseres Gottes, erflehe ich für dich Glück.


Jossele stellte sich die Stadt Jerusalem wunderbar vor. Sie wurde zum Ort seiner Träume und Phantasien, zum Ort, in den seine Gedanken flohen, wenn er sich bedrängt fühlte.

Als Jossele vierzehn Jahre alt wurde, kam er in die Obhut eines Onkels in Lodz. Er war klug und hätte studieren können, aber er war auch schüchtern und sehr bescheiden. Er wollte nie zu weit vorn stehen, nicht zu sehr bemerkt werden. Er wurde Anwaltsgehilfe.

Als Jossele Szyldwach neun Jahre alt war, 1909, wurde in Blumbilitza in Polen Rosa Tscherepinsky geboren, deren Mutter bei der Geburt starb. Ihr Vater war Meir Tscherepinksy, - ein Tuchkaufmann. Rosas Vater, um nicht mit Rosa und ihrer älteren Schwester Sophie alleinzubleiben, nahm eine zweite Frau. Chana war für Sophie und Rosa eher wie eine Schwester. Rosa sang viel mit der jungen Stiefmutter, und dabei zeigte sich, daß Rosa eine schöne Altstimme hatte. Der Geschäfte wegen zog Meir Tscherepinsky nach Warschau, und dort wurde Rosas Stimme ausgebildet. Als Rosa zwanzig Jahre alt war, sah es so aus, als werde sie eine Karriere an der Oper machen.

Im Jahre 1929, als Rosa Tscherepinsky zwanzig war und auf eine verheißungsvolle Zukunft hinsteuerte, hatte Jossele Szyldwach, der sich jetzt Josef nannte, bereits eine Familie. Er hatte Clara Zingher geheiratet, die ein wenig älter war als er. Clara bekam ihre Kinder schnell hintereinander. 1929 waren es zwei.

Josef verdiente als Anwaltsgehilfe nicht viel, aber Clara hatte, da sie davon ausgegangen war, unverheiratet zu bleiben, nähen gelernt und ihre Kundschaft nach der Heirat beibehalten. Sie lebten nicht üppig, aber auskömmlich. Sie bekamen weitere Kinder, und Clara schnitt zu, steckte ab, nähte und bügelte zwischen Puppenwagen und Holzpferdchen. Josef, nach Art der Frommen, las viel und dachte viel nach. 1939, Clara war dreiundvierzig Jahre alt, kam zu den vier Mädchen und einem Sohn ein weiterer Sohn, das letzte Kind, das sie Marek nannten. Clara wurde kränklich.

1939 lebte Rosa immer noch in Warschau, war verheiratet mit Jacob Wajs, den sie nicht liebte, und Mutter von drei Kindern. Ihren Mann, einen Journalisten, hatte Rosa nach ihrem zweiten Konzert kennengelernt. Er hatte eine überschwengliche Kritik geschrieben und ihr klargemacht, ihre wahre Bestimmung sei es, ihn zu heiraten und ihm Kinder zu gebären. Sie heirateten, als Rosa zweiundzwanzig war, und im gleichen Jahr fing Jacob an, Rosa zu betrügen. Während der Jahre ihrer Ehe versuchte Jacob immer wieder, Theaterstücke zu schreiben. Er hatte keinen Erfolg, was er schlecht ertragen konnte.

Im September 1939 war die im saarländischen Besseringen nahe der französischen Grenze als Tochter eines Zollbeamten und einer Putzmacherin geborene Lydia Meaubert vier Jahre alt und lebte mit ihrer Familie in Saarbrücken. Lydia hatte einen jüngeren Bruder, und die Familie erwartete ein drittes Kind. An einem sonnigen Tag Anfang September 1939 fuhren Autos mit Lautsprechern durch die Straßen und forderten die Bevölkerung auf, binnen vierundzwanzig Stunden die Stadt zu verlassen. Die Nacht verbrachte Lydia mit der schwangeren Mutter und dem kleinen Bruder in einem überfüllten Zug. Im Haus eines Onkels in Bonn fanden sie Unterschlupf. Dort waren schon andere Verwandte aus dem deutsch-französischen Grenzgebiet eingetroffen. Lydia behielt ein Bild im Kopf: die ausgebreiteten Arme des Onkels, der alle willkommen hieß - und sie würde sich immer an seine Worte erinnern: Gott soll uns schützen!

Während Lydia im Hause des Onkels im Trubel der dort zusammengekommenen siebzehn Menschen, in dem niemand auf sie achtete, ihre kindlichen Beobachtungen machte, war in Polen der Krieg ausgebrochen.

Polens zweitgrößte Stadt, Krakau, war am 6. September gefallen, und in der folgenden Nacht floh Polens Regierung vor den Deutschen aus Warschau nach Lublin. Schon bald hörte man schreckliche Dinge über die Deutschen: Angehörige eines Artillerieregiments hätten fünfzig Juden den ganzen Tag über an der Instandsetzung einer Brücke arbeiten lassen und sie anschließend in einer Synagoge zusammengetrieben und niedergemetzelt.

Reinhard Heydrich, Chef des Sicherheitsdienstes in der SS und Mitarbeiter des Reichsführers SS, Heinrich Himmler, verkündete eine Flurbereinigung: Judentum, Intelligenz, Geistlichkeit und Adel sollten ausgerottet werden. Am 21. September 1939 hatte Heydrich die Idee, wie mit dieser Flurbereinigung begonnen werden sollte. In einer Denkschrift schlug er vor, die Juden zur leichteren Erfassung in den Städten in Ghettos zusammenzupferchen, und sprach außerdem von einem zu erreichenden Endziel.

Von diesem Endziel wußten im Herbst 1939 weder Josef noch Clara noch Rosa noch Jacob. Sie wußten auch nichts von der Aktion, der Jacob im Frühjahr 1940 zum Opfer fallen sollte. Sie trug die wunderliche Bezeichnung Außerordentliche Befriedungsaktion und richtete sich gegen die polnische Intelligenz. Dem Juden Jacob Wajs, der statt eines jüdischen Journalisten ein polnischer Schriftsteller hatte sein wollen, gelang im Tod, was ihm im Leben nicht gelungen war: Aufgrund irgendeiner verwirrenden Angabe in seinen Papieren starb er im Zuge dieser Aktion zusammen mit dreitausendfünfhundert polnischen Intellektuellen, denen er zugerechnet wurde.

Nach dem Tod ihres Mannes lebte Rosa in Angst. Rosas Schwester Sophie, die einige Jahre zuvor nach Frankreich gegangen war, versuchte seit geraumer Zeit etwas für die Schwester und deren Kinder und den alten Vater Meir Tscherepinsky zu tun. Aber der über achtzigjährige Meir Tscherepinsky war noch in den ersten wirren Septembertagen seinen beiden Frauen - auch Chana war jung gestorben - ins Grab gefolgt. Und Rosa hatte ihre große Wohnung verlassen und mit den Kindern in eine andere Straße ziehen müssen, die nach dem November 1940 zur Falle im ummauerten Ghetto wurde.

Nach dem Einmarsch der Deutschen hatte Josef Szyldwach einige Tage lang den Gedanken gehabt, in östliche Richtung zu fliehen - zu einem seiner Brüder nach Lemberg. Wegen Claras Krankheit hatte er dieses Vorhaben von Tag zu Tag verschieben müssen. Ab Februar 1940 war es nicht mehr möglich, das große Ghetto von Lodz zu verlassen. Dennoch versuchte Josef, die beiden ältesten Kinder außerhalb bei einem Bauern unterzubringen. Das Geld für die Verpflegung war einer kinderreichen Kleinbauernfamilie über Mittelsleute bereits überbracht worden. Aber am Morgen, an dem die Kinder abgeholt werden sollten, fand sich Josef mit seiner Familie in einem Pulk hastig zusammengetriebener Juden, die von Lodz nach Warschau umgesiedelt wurden.

Ständig trafen aus Mitteleuropa Judentransporte ein, und für den jeweils letzten mußte Platz geschaffen werden. Zwar hatte der Winter 1940/41 später eingesetzt und war weniger streng als der Winter des Vorjahres, aber die Umsiedlung der Juden von Lodz fand an seinem kältesten Tag und während eines Schneesturms statt. Clara starb mit anderen Schwachen in dem traurigen und verzweifelten Treck, der sich in der Nähe von Lodz auf die abseits vom Bahnhof abgestellten Waggons zubewegte. Wie ein Haufen Lumpen lag sie am Rande eines steinhart gefrorenen Ackers, und Josef wurde keine Zeit gelassen, sie zu bestatten.

Obwohl sie in Warschau einmal recht nahe beieinander wohnten, kannten sich Josef und Rosa nicht. Man wechselte die Wohnungen häufig im Ghetto, um nicht so leicht erfaßt zu werden. Menschen kamen, Menschen wurden weggetrieben. Ganz Polen war wie das Ghetto zum Verschiebebahnhof geworden. Wenigstens den Kindern versuchte man das Leben so leicht wie möglich zu machen. In einigen Häusern wurden trotz Verbots Schulen unterhalten. In einer dieser Schulen waren drei Kinder von Josef - Anna, Mendel und Kalma -, waren Rosas Tochter Ruth und ihr Sohn Henryk. Sie saßen dort in Mänteln, die klammen Finger in die Ärmel gesteckt, und übten sich im Kopfrechnen, als draußen Geschrei und das Poltern von Stiefeln zu hören waren. Die Deutschen hatten Wind von der Schule bekommen. Die Kinder wurden auf zwei Lastwagen verladen. Sie würden keine Gelegenheit mehr haben, ihre Fähigkeiten im Kopfrechnen zu nutzen. Jemand kam gelaufen, Josef die Nachricht zu überbringen. Josef kroch mit seinem Schmerz in sich hinein.

Zu Rosa kam niemand, und sie irrte bis zum Abend mit ihrem Jüngsten an der Hand durch die Straßen. Im Winter 1941/42 war Rosa eine grauhaarige, bis zum Skelett abgemagerte junge alte Frau. Ihr jüngstes, jetzt einziges Kind hatte Geschwüre und Beine wie Holzstöckchen. Rosa versuchte, ihm seinen Hunger wegzusingen und ließ den leichten Kopf auf ihren Schultern ruhen. Die Augen des Kindes in dem geschrumpften kleinen Gesicht wurden immer größer.

Im selben Winter wurden Josef und seine Kinder nach Auschwitz transportiert. In Auschwitz wurde Josef von seinen Kindern getrennt. Das letzte, was Josef von ihnen sah, war der rote Mantel seiner Tochter Raiza, das letzte, was er von ihnen hörte, war das Schreien des kleinen Marek auf Raizas Arm.

Im Februar 1942 hörte Josef auf zu sprechen. Sein Leben wurde zu einem langen Kaddisch. Die Zeit zerfloß ihm zu einem trüben Brei, und er wünschte sich den Tod. Josef entsann sich heiliger Worte aus der fernen Zeit, als es noch Bücher gegeben hatte. Während er tags Steine klopfte und sich nachts im Gestank wälzte, murmelte es tonlos in seinem Innern:

Er zehrte aus mein Fleisch und meine Haut,
zerbrach meine Glieder,
umbaute und umschlqß mich
mit Gift und Erschöpfung.
Im Finsternis ließ er mich wohnen
wie längst Verstorbene.
Er hat mich ummauert,
ich kann nicht entrinnen.
Er hat mich in schwere Fesseln gelegt.
Wenn ich auch schrie und flehte,
er bliebstumm bei meinem Gebet.
Mit Quadern hat er mir den Weg verriegelt,
meine Pfade irregeleitet.


Es war lange her, daß das gelehrige Kind Jossele seinen späten Jammer vorweggelesen hatte:

Ich aber bin taub und höre nichts;
ich bin wie ein Stummer,
derseinen Mund nicht auf tut, ja,
ich bin wie ein Mann, der nicht hört,
in dessen Mund keine Widerrede ist.


Was Josef nicht wußte: daß zwei seiner Brüder mit ihren Familien nach Auschwitz gekommen waren. Er begegnete ihnen nicht.

Auch Rosa wußte nicht, daß am 14.September 1942 ihre Schwester Sophie mit dem Konvoi Nummer 23 vom Bahnhof le Bourget/Drancy aus nach Auschwitz-Birkenau verfrachtet wurde. Ein Herr H. hatte, signiert von einem Herrn B., an einen Herrn E. gemeldet, in diesem Zug befanden sich: 447 Menschen unbestimmter Herkunft, 220 Polen, 85 Türken, 73 Ungarn, 55 Russen, 40 Rumänen, 37 Franzosen, 19 Deutsche, 14 Holländer, 8 Jugoslawen, 7 Österreicher, 7 Staatenlose, 6 Tschechen, 5 Litauer, 4 Belgier, 2 Slowaken, 1 Saarländer, 1 Lette, zusammen 1031 Menschen.

Um genau zu sein: Das Wort Menschen hatte Herr H. vermieden. Es hieß in seinem Telex: 447 unbestimmter Herkunft. Und am Ende stand nur die Zahl: 1031. Was Sophie, die zu den 220 Polen gehörte, nicht wußte: daß sich in diesem Zug ein Mendel Szpajzer aus Blumbilitza, ihrem Geburtsort, befand. Dieser Mendel war ein Gehilfe ihres Vaters gewesen.

Der Zug mit den 1031 Menschen kam am 16. September in Auschwitz-Birkenau an. 49 Frauen wurden mit den Nummern 19772 bis 19821 versehen. Sophie gehörte nicht zu ihnen. Sie kam sofort ins Gas.

Im Mai 1943, während im Ghetto von Warschau nach dem Aufstand die Trümmer gesprengt wurden, starb der Vater des Kindes Lydia nach einem Nervenzusammenbruch, den man einem Gehirntumor zuschrieb. Seine Todesanzeige erschien in der NSZ Westmark, der Amtlichen Tageszeitung der NSDAP Gau Westmark, Ausgabe Saarland-West. Die Familie war, als die Angriffe auf das Rheinland begonnen hatten, wieder ins Saarland zurückgekehrt.

In der NSZ Westmark vom 27. Mai 1943 wurde auf der ersten Seite unter der Überschrift Verschärfter Luftkrieg der Abschuß von neununddreißig britisch-amerikanischen Flugzeugen gemeldet, wurde der deutschen Zivilbevölkerung eine gesicherte Südostflanke vorgetäuscht, hieß es: Churchill Anstifter des Bombenterrors, und ließ sich ein Marinefachmann über die Abwehrkraft am Mittelmeer im Vergleich mit dem Ersten Weltkrieg aus. Außerdem, so war zu lesen, hatte der Führer am 23. Mai das Eichenlaub zum Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes an Generalleutnant Martin Grase verliehen, den Kommandeur einer Infanterie-Division.

Für den Haufen Lügen in der NSZ Westmark hatte Lydias Mutter zehn Reichspfennige bezahlt.

Rosa, die den Aufstand im Ghetto halb betäubt vor Angst und Entkräftung erlebt hatte, ohne sich zu beteiligen, wurde nach Beendigung des Kampfes nach Auschwitz abtransportiert. Ihr Leben war nur noch von einem einzigen Instinkt beherrscht: nicht vor ihrem Kind zu sterben oder wenigstens mit ihm zusammen. Sie hatte sich geschworen, ihr Kind, sollte man sie trennen wollen, vorher selbst zu töten. Man hatte es ihr genommen, und sie hatte es nicht getötet.

Es gab keinen genauen Zeitpunkt, gab keine alleinige Ursache - aber irgendwann erwachte in Rosa die Furchtlosigkeit eines Menschen, der nichts mehr zu verlieren hat. In einem Morast aus Tod und Grauen wurde Rosa wider Erwarten stark. Eine der Willkürlichkeiten des Chaos hatte Rosa verschont. Ein SS-Mann hatte sich ihrer erbarmt und ließ sie in der Kleiderkammer arbeiten. Sie fühlte sich vom Tod zurückgewiesen oder als hätte sie ihren Tod schon überlebt. Es ist nicht bekannt, wie Rosa Josef kennenlernte. Bekannt ist, daß es in Auschwitz war und daß Josef die ersten Worte nach langer Sprachlosigkeit mit Rosa wechselte.

Lydia lebte in den letzten Kriegsjahren in einer Art Großfamilie, die sich auf mehrere Häuser verteilte. Im Dorf sammelten sich die Flüchtlinge aus Rheinland und Ruhrgebiet. Lydia hörte von getöteten Dorfbewohnern. Splitter hatten eine Frau im Garten getötet. Ein Bauer war im Stall von einer Granate zerrissen worden, neben seinem Pferd. Lydia lernte statt «guten Morgen» «Heil Hitler» sagen und daß es außer Bauern und Evakuierten Fremdarbeiter gab. Im Haus der Verwandten waren es Franzosen. Lydia starb im Herbst 1943 fast an Nasendiphtherie. Medikamente waren knapp geworden.

1944 wurde auch Rosa krank. Sie wurde vom Fleckfieber befallen und in der Krankenbaracke versteckt. Um die gleiche Zeit wurde Josef in ein westlicheres Lager überwiesen. Rosa und Josef hatten Adressen ausgetauscht, die sie, sollten sie getrennt überleben, zu ihrem Treffpunkt machen wollten. Rosa wurde in ihrem Versteck gesund, das heißt, sie erreichte einen Zustand körperlicher Schwäche, der zum Leben gerade ausreichte.

Im Januar 1945 rückte die russische Armee näher. SS-Leute trieben die Häftlinge von Auschwitz in langen Märschen in westlichere Lager. Nach Abzug der Häftlinge waren in den verschiedensten Auschwitzer Lagern über siebentausend Kranke und Marschunfähige zurückgeblieben, die auf ihre Befreiung warteten. Rosa verbrachte die zehn Tage des Wartens als Pflegerin im Krankenbau von Buna-Monowitz - Tage voll von Angst, Gestank und Deliriumsschreien. Etwa achthundertfünfzig Kranke waren in Buna-Monowitz zurückgeblieben. In den zehn Tagen des Wartens starben fünfhundert von ihnen. Am 27.Januar wurde Rosa befreit. In den nächsten Tagen starben weitere zweihundert Kranke.

Rosa ging in die Freiheit. Sie ging nicht nach Warschau, wollte Warschau nie mehr sehen. Rosa ging zu einer der Adressen, die sie mit Josef getauscht hatte - nach Kattowitz, in die Familie eines im Lager erschossenen Kommunisten. Dort wartete sie auf Josef. Sie war sicher, daß er kommen würde. Es dauerte Monate, aber er kam. Josef hatte eine Odyssee durch mehrere Lager hinter sich und war unter dem Ansturm der näherrückenden Alliierten in die Anarchie der letzten Tage von Theresienstadt geraten, des letzten befreiten Lagers.

In Kattowitz wurde auch Josef genährt und gekleidet. Die Familie des toten Kommunisten rief Freunde zusammen, damit Rosa und Josef erzählen sollten. Aber Rosa und Josef sprachen wenig. Die Hölle war nicht zu erzählen. Die Hölle war in ihnen - in ihren Vorstellungen, Ängsten und Träumen, in jeder einzelnen Nacht und in jedem einzelnen Tag ihres Lebens. Das unterschied sie von den Menschen um sie herum.

Als Rosa befreit wurde, lebte das Kind Lydia in einem unterirdischen Stollen. Die Front war sehr nahe - der sogenannte «Orscholz-Riegel». Der Himmel war auch bei Tag gerötet, und es donnerte ununterbrochen in der Ferne. Alte starben im Stollen, Kinder wurden geboren. Der Bäcker verließ den Stollen, um Brot zu backen, die Bauern verließen ihn, um Tiere zu füttern, Kühe und Ziegen zu melken. Talglichter erhellten die Gänge, die Luft war knapp.

Am 15. März kam ein Bauer vom Balkenklosett im nahen Wald in den Stollen gestolpert und sagte: Die Amerikaner sind da. Lydia ging mit erhobenen Armen in einer langen Reihe von Menschen und sah zum ersten Mal in ihrem Leben in eine Gewehrmündung.

Rosa und Josef verließen Polen im Sommer 1946. Sie gingen nach Uruguay - weit weg von Europa, weit weg vom geographischen Ort der Hölle. Aber sie wußten bereits, daß sie der Hölle auf diesem Erdball nicht mehr würden entweichen können, denn die Hölle, wie gesagt, war in ihnen.

Rosa und Josef heirateten. Sie trotzten der Welt, die ihnen alles genommen hatte, eine winzige Hoffnung ab - ein Kind, einen Sohn, bei dessen Geburt Rosa fast gestorben wäre. Rosa war vierzig Jahre alt, Josef fast fünfzig. Rosa und Josef bezogen ein Häuschen. Sie gehörten zur jüdischen Gemeinde von Montevideo. Ihren Sohn Pedro ließen sie beschneiden. Sie hielten Seder und fasteten an Jom Kippur. Aber Josef betete nur mit den Lippen. Die Worte der Schrift waren nur noch Worte. Josef hörte seinen heranwachsenden Sohn lesen:

Hochpreisen will ich dich, Herr,
denn du zogst mich empor
und ließest meine Feinde
nicht über mich jubeln.
Herr, mein Gott, ich flehte zu dir,
und du heiltest mich.
Herr, du hast mich heraufgeführt
aus dem Totenreich,
mich neu belebt,
getrennt von denen, die zur Grube sanken.


Der Gott, der gepriesen wurde, war nicht mehr Josefs Gott.

Am 23. Mai 1949 stand die vierzehnjährige Lydia eingekeilt in eine Menschenmenge auf dem Marktplatz in Bonn und hörte feierliche Reden. Deutschland war eine neue Republik und Bonn ihre Hauptstadt. Auf der Treppe zum alten Rathaus standen ein neuer Kanzler und ein neuer Präsident. Lydia ging im Gymnasium der Schwestern unserer Lieben Frau in eine Klasse mit vielen vaterlosen Kindern. Bald kamen neue Kinder hinzu, die nicht vaterlos waren. Die Väter waren die Diplomaten, Journalisten, Parlamentarier, Stenografen und Regierungsräte der neuen Republik.

Vom Krieg wurde in Lydias Schule nicht gesprochen. Lydia traute den Erwachsenen nicht. Sie war eine aufsässige Jugendliche. Sie hatte einen Film im Kopf: einen eisigen Wintertag und einen Treck von Menschen. Eine junge Ukrainerin, die ihr Kind säugte in der Küche der Verwandten. Eine weinende Mutter, weinende Tanten, die Kleider und Lebensmittel brachten. Soldaten in Stiefeln. Und am Abend im Dunkeln die Worte der Erwachsenen: Sie sind alle erschossen worden.

Rosa und Josef und Pedro versuchten sich in Uruguay in einem bürgerlichen Leben. Aus Rosas früherem Leben gab es keine Fotos. Aus Josefs früherem Leben gab es ein Foto: eine Frau, ein Mann und sechs Kinder an einem runden Tisch. Mit diesem Foto wuchs Pedro heran. Er wußte, daß er neun Geschwister gehabt hatte und daß es an ihm war, seine Eltern für diese neun Kinder zu entschädigen und sie glücklich zu machen. Wenn er nach früher fragte, weinten seine Eltern. Also fragte er nicht mehr. Als er sechzehn war, konnte er die dunkel umschatteten Augen seines Vaters, denen man die schlechten Träume der Nacht ansah, konnte er die ängstliche Umklammerung seiner Mutter nicht mehr ertragen. Er lief weg und begann sich herumzutreiben. Er wollte niemandes einzige Hoffnung mehr sein. Den dünnen Schlaf, in dem sich Ängste breitmachen, hatte er von seinen Eltern übernommen. Nachts, anstatt im Dunkeln wachzuliegen, spielte er in Nachtbars auf der Gitarre Bossa Nova.

Als Rosa achtundfünfzig Jahre alt war und Josef fast siebzig, als Lydia fünfunddreißig Jahre alt war und selbst ein Kind von sieben Jahren hatte, flog der achtzehnjährige Pedro nach Israel. Er suchte so etwas Ungenaues wie eine Hoffnung. Er begann zu studieren und zu arbeiten. Er lernte neue Dinge. Was er nicht lernte: nachts fest und tief zu schlafen oder Menschen zu befragen.

Pedro flog zurück nach Uruguay, half seinem Vater, das Häuschen zu verkaufen, und seiner Mutter, Koffer zu packen. Zu dritt flogen sie nach Israel.

Rosa und Josef waren zum ersten Mal in einem Land, in dem sie nicht anders waren als die Menschen um sie herum. Hier war jeder anders als der andere. Sie waren gewissermaßen Bürger eines Landes aus lauter anderen und daher nicht mehr anders. Auch hier lernten Rosa und Josef nicht, gut und tief zu schlafen. Sie lernten auch die Sprache des Landes nicht mehr, die Sprache, die ihre Enkelin sprach. Untereinander sprachen sie Jiddisch. Die Enkelin fand Rosas und Josefs jiddische Sprache merkwürdig.

Pedro fand für Rosa und Josef eine kleine stille Wohnung im Jerusalemer Stadtteil Talbyie. Die Stadt aus Josseles Kinderträumen wimmelte von Uniformen und Gewehren.

Granaten explodierten in Pilgergruppen, Telefonhäuschen wurden von Sprengstoff zerfetzt, Reifen brannten. Die Stadt hatte nichts mit Josefs Kinderträumen zu tun. Es kam vor, daß Josef, wenn er am Fenster saß und in der Ferne den schwarzen Rauch brennender Reifen in Morasha oder ScheikhJarrah sah, vor sich hin murmelte: Wünschet Jerusalem Heil. In Sicherheit möge leben, wer immer dich liebt!

Rosa und Josef warteten viele Stunden auf die Besuche des Sohnes und auf das Geplapper der Enkelin, die sie nicht verstanden. Sie sahen die fremde schöne Schwiegertochter an, schoben ihr polnische Apfelküchlein zu, die ihr nicht schmeckten, und machten Geschenke, die ihr nicht gefielen. Ihre Erinnerungen torkelten in stillen Stunden durch die Abschnitte ihres Lebens.

Im Oktober 1979 saß Lydia Meaubert, die längst einen anderen Namen hatte, in einem Gerichtssaal. In ihrer Hand knüllte sie ein kleines Pappstück, auf dem geschrieben stand: 15. große Strafkammer, Landgericht Köln. Drei Männer - Lischka, Hagen und Heinrichsohn - waren angeklagt, an der Ermordung von 20000 Juden aus Frankreich beteiligt gewesen zu sein. Es gab Listen der Ermordeten. Auch der Konvoi Nr. 23 vom 14.September 1942 war aufgeführt mit dem Namen Sophie Tscherepinsky, geb. in Blumbilitza,und mit dem Namen jenes Mendel Szpajzer aus der gleichen Stadt. Die Listen waren öffentlich ausgestellt, und Lydias Augen fuhren über die gedruckten Tode, ohne irgendwo hängenzubleiben.

Im Mai 1981 zog im Haus Hagdud Haivri Nr. 39 in Jerusalem ein Ehepaar ein. Die alte Frau in der ersten Etage hörte jetzt immer die Schreibmaschine von oben durch das Treppenhaus klappern. Früher war es ruhiger gewesen. Eine amerikanische Gastprofessorin hatte dort gewohnt. Einmal stieg der Mann unten ins Auto, und die Frau rief ihm vom Balkon herunter etwas zu - deutsche Wörter. Die alte Frau zuckte zusammen. Überhaupt war ihr das Haus viel zu laut geworden. Die Gäste der neuen Mieter polterten täglich treppauf, treppab.

Jeden Morgen um sieben Uhr stand die alte Frau an der Ecke ihres rückwärtigen Balkons und warf Fleischstückchen und Kuchenreste in den Hof, in dem sich die streunenden Katzen von Hagdud Haivri und Mevo Joram versammelten. An einem Oktobermorgen kurz nach sieben sah sie den Mann aus Deutschland wegfahren. Sie machte weiter ps, ps, ps und warf ihre Brocken zu den Katzen. Da sah sie das blaue Handtuch. Sie kannte die Wäschestücke aus dem Haus und sogar die vom Haus gegenüber. Jeden Tag flatterte Wäsche auf irgendeinem Hinterbalkon. Die alte Frau ging nach unten und stieg dann keuchend drei Stockwerke hoch. Sie klingelte und hielt die Hand mit dem Handtuch in die Türöffnung. Die Frau aus Deutschland sagte: Todaraba. Die alte Frau sagte: Kennen se ruhig sprechen dajtsch.

Die alte Frau kam nach Tagen und bat um ein Ei. Einmal hatte sie keine Zwiebel im Haus. Als sie sich eine Tasse Salz auslieh, sagte sie: Se sennen a gite Froj. Nach Wochen brachte sie einen selbstgemachten Likör und setzte sich in einen Sessel. Sie hatte, sagte sie, im Treppenhaus die Musik gehört. Der Plattenteller drehte sich. Die Callas sang Norma. Die alte Frau summte und schloß die Augen. Die Frau aus Deutschland holte Gläser und ließ die alte Frau summen.

Die Arie füllte den ganzen Raum, dennoch dachte die Frau aus Deutschland, daß sich in diesem Raum etwas Unbekanntes befand.

Irgendwann brauchte die Frau aus Deutschland Zucker und klingelte bei Szyldwach. Während die alte Frau Zucker in eine Tasse füllte, drehte sich der alte Mann im Zimmer zur Seite.

Als die Frau aus Deutschland für ein paar Tage verreisen mußte, brachte sie ihre Pflanzen zu der alten Frau. Diesmal drehte sich der alte Mann nicht zur Seite. Seine Augen hatten dunkle Höfe.

Se schraijben fir a Zajtung? fragte er, oder a schajnes grojßes Buch? Wollen se, daß ich varzähl von majn Lebn? Ich hob erlebt su viel, dus kenn men garnischt sugn alles.

... weil es eine Geschichte ist, die nicht mit mir sterben kann. ... hatte der alte Mann auch gesagt, und deshalb hatte die Frau aus Deutschland diesmal ein Tonbandgerät mitgebracht. Es stand mitten auf dem Tisch auf dem roten Wachstuch. Die Uhr in der kleinen dämmrigen Wohnung tickte. Die alte Frau nahm die Apfelküchlein, die die Schwiegertochter nicht mochte, und schob sie der Frau aus Deutschland zu: Wollen se probiern de Kiechlach?

Es war ein später Chamsintag, der alte Mann wirkte angestrengt und krank, und seine Stimme klang heiser und schwach, als er erzählte... Er ist dafür bestraft worden, er hat meinen Freund Janusch und mich gern gehabt. Er hat uns gesagt, was mit den Kindern war, damit wir es wissen. Er ist erschossen worden... ein guter Deutscher, Gott soll ihn belohnen.

Der Nescafe stand schwarz in den gläsernen Tassen. Der alte Mann sagte: Warum habt ihr das aus euch gemacht? So viel muß man darüber weinen, Zeit gibt es nicht genug im Leben, darüber zu weinen.

Die Frau aus Deutschland schluckte und würgte an einem Küchlein. Das muß man würgen, dachte sie, muß man alles würgen, diese steinernen Küchlein.

Das Tonband lief nicht, denn ihre Hände hatten gezittert, und sie hatte einfach auf irgendeine Taste gedrückt. Aber das war unwichtig, denn die Worte flossen in sie hinein, die Worte, die der Mund des alten Mannes entließ, leise und durch den schwachen Atem kaum gestützt. Sie kaute, als würde ihr Mund immer voller, von innen her aus ihrem Körper gefüllt. Draußen, weltweit entfernt, waren die Geräusche des Lebens - Schritte, Autos, Worte.

Der alte Mann war über achtzig und nah bei seinem Tod.

Die Tonbandspule war leer, aber das machte wirklich nichts, die Stille enthielt eine von Millionen unerzählter Geschichten. Sie kaute und kaute und drückte die trockene Greisenhand.


Aus: Katzengesang und Eselsschrei, Erzählungen, Verlag Nagel & Kimche, 1985